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Wo der einzige Motor das Leben ist

Immer mehr Städter kommen zum Schluss: Nicht das Auto steht für Freiheit. Sondern eine Garderobe, an dem ein Schlüssel weniger hängt. Die Ersten, die ein Leben ohne vier Räder im grossen Stil erprobt haben, wohnen in einer Siedlung im Westen von Bern. Von Menschen, die ihren Alltag neu denken – und weshalb ihnen noch viele folgen könnten.

Wenn es hier am Morgen lärmt und dröhnt, dann liegt es am Kaffeekessel. Oder am quengelnden Kind, das nicht aus den Federn will. Nicht aber an einem Motor unter dem Schlafzimmerfenster, denn die Bewohner der Überbauung in Bern-Bümpliz haben sich vertraglich zu etwas verpflichtet: dem Verzicht aufs eigene Auto. Die Siedlung Burgunder, direkt beim Bahnhof Bern Bümpliz Süd mit den beiden S-Bahn-Linien 1 und 2 der BLS gelegen, gilt als die erste autofreie Siedlung der Schweiz. Seit acht Jahren wohnen hier Familien und Alleinstehende, junge und ältere Mieter – Menschen, die ihre Lebensqualität nicht von einem Motorfahrzeug abhängig machen.

Burgunder in Zahlen

82 Wohnungen
4 Arbeitsgruppen
3 Gebäudezeilen
180 Veloparkplätze
0 Bewohner-Parkplätze
1 Mobility-Standplatz
70 Kinder
1 Kita

Rund 20 autofreie Siedlungen

Die Pioniere aus Bern sind heute nicht mehr allein. Gegen 20 autofreie Siedlungen dürfte die Schweiz heute zählen, wie der VCS schätzt – Tendenz stark steigend. Viele von ihnen profitieren von den Erfahrungen der Bauplaner aus Bümpliz; vom Umgang mit den Behörden, von einer lockeren Parkplatzverordnung, die autofreies Wohnen erst möglich macht. Damit es gelingt, braucht es mehr als gesetzliche Freiheiten. Genauso entscheidend sind die Menschen und ihre Bereitschaft, neue Wege zu gehen. Erfahren Sie hier und online, was das autofreie Wohnen mit den Berner Vorläufern macht.

Stimmen zur Siedlung Burgunder

«Wir wussten bei Baubeginn nicht, ob sich jemand fürs autofreie Wohnen interessiert – das Wagnis hat sich jedoch schnell ausgezahlt.»
Günther Ketterer, Bauherr und VR-Präsident der npg AG

«Der ÖV rund um die Siedlung ist ein Traum, wenn ich ihn mit meinem früheren Leben in Deutschland vergleiche.»
Werner Schlüter, 68, Mieter und Pensionär. Kümmert sich in der Obstbaumgruppe um die Pflege der Apfel- und Zwetschgenbäume.

«Die Kinder können draussen frei spielen – und wir müssen uns nicht ständig sorgen, dass etwas passieren könnte.»
Katja Roth, Kita-Leiterin im autofreien Burgunder

«Autofreies Bauen bedeutet für uns mehr Möglichkeiten – für mehr Natur und mehr Begegnungsflächen.»
David Bosshard, verantwortlicher Landschaftsarchitekt Projekt Burgunder

«Nach der autofreien Siedlung in Bern-Bümpliz hat die Bewegung so rasant Fahrt aufgenommen, dass ein Überblick immer schwerer fällt.»
Samuel Bernhard, Verkehrs-Club der Schweiz (VCS)

Katharina Gallizzi, 42, Mieterin, Mutter und Stadträtin:
Was sie am Leben in der autofreien Siedlung am meisten schätzt.

«Wir ziehen erst aus, wenn wir ins Altersheim müssen»

Katharina Gallizzi ist eine Mieterin der ersten Stunde: Vor acht Jahren haben sie und ihr Mann eine Wohnung in der autofreien Siedlung Burgunder bezogen, heute leben sie ihren Alltag als vierköpfige Familie. Hier erzählt die Stadträtin des Grünen Bündnisses, warum sie auch mit Kindern das Auto nicht vermisst.

Katharina Gallizzi, ist ein autofreies Leben mit kleinen Kindern nicht manchmal anstrengend?

Nein, gar nicht. Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der wir unbedingt ein Auto gebraucht hätten. Selbst als eines der Kinder in den Notfall musste, haben wir es in den Veloanhänger gepackt, vermutlich waren wir sogar noch schneller im Spital als mit einem Auto.

Mit welchen Verkehrsmitteln sind Sie unterwegs?

Mit allen ausser mit eigenen Motorfahrzeugen, also zu Fuss, mit dem Velo oder dem ÖV. Dreimal pro Woche pendle ich mit dem Zug nach Neuenburg, wo ich beim Bundesamt für Statistik als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig bin. Anders als im Auto kann ich unterwegs teilweise arbeiten, ich mache im Zug etwa regelmässig die Vorbereitung für die Sitzungen im Stadtrat. Ich hätte übrigens ein Abo bei Mobility; gebraucht habe ich es aber erst ein einziges Mal. Es geht mir um die Idee der Genossenschaft, die ich unterstützen möchte.

Welche Vorteile bringt das Unterwegssein mit dem ÖV sonst?

Natürlich ist es der ökologische Gedanke, der wichtig ist. Und als Familie ist es einfach auch sehr praktisch. Wir können die Zeit nutzen, um zu spielen, zu malen oder einander Geschichten zu erzählen. Dank dem ÖV kann man das Familienleben und die Interaktion in Schwung halten.

Gibt es anderes, was Sie am autofreien Wohnen auch schätzen?

In der Siedlung Burgunder haben wir viele Gleichgesinnte als Nachbarn, die Nachhaltigkeit ebenfalls schätzen. Häufig sind die Menschen auch an einem engeren Austausch interessiert – diesen pflegen wir etwa innerhalb der Arbeitsgruppen, die wir gebildet haben. Ich kümmere mich zum Beispiel um den Gemeinschaftsraum, den wir regelmässig für Treffen wie ein gemeinsames Nachtessen oder das jährliche Siedlungsfest nutzen. Der Zusammenhalt unter den Bewohnern ist für mich einer der schönsten Aspekte am Burgunder. Mein Mann und ich haben schon gesagt, zumindest halb im Ernst, dass wir hier erst ausziehen, wenn wir dereinst ins Altersheim müssen.

Drei Erfahrungen in drei Punkten:

ÖV als Tradition

Ich bin in eine ÖV-Familie geboren worden, der Führerausweis war nie ein echtes Thema. In der Stadt Bern fällt das autofreie Leben ohnehin nicht schwer. Vielleicht einmal im Jahr frage ich einen Freund, ob er mir mit seinem Auto aushilft.

Das Beste am Autofreien

Das Reisen wird mit dem ÖV viel mehr zu einem Erlebnis. Und ohne Auto kann ich mir anderes leisten, was mir wichtig ist – gutes Essen etwa, schöne Möbel oder Kulturerlebnisse.

Der spontane Trip

Ich liebe es, in den Zug zu sitzen und einfach loszufahren. Das geht am besten so: Ich picke mir von der Anzeigetafel im Bahnhof die Verbindung heraus, die an dritter Stelle von oben steht – so entdecke ich Orte, auf die ich sonst nicht komme.
27% So viele Menschen ohne Auto zählen laut einer Studie von EnergieSchweiz zu einer bestimmten Gruppe: der urbanen Elite. Das sind jüngere, erwerbstätige Menschen mit hohem Ausbildungsniveau und Wohnsitz in der Stadt. Simon Caderas, 28-jährig, Grafiker aus Bern, lebt seit je ohne Autoführerausweis. Seine Liebe für den ÖV geht dafür weit – so weit, dass er ihn abends zum Entspannen nutzt. Sein Tipp fürs Kopfdurchlüften: der Tonspur eines gemütlich ruckelnden Zuges lauschen.

Ein Velo macht Karriere

Ein knallgelbes Bike namens Willy und eine junge Frau mit einer blendenden Idee – das sind die Zutaten, die «Willy Müesli» ausmachen. Aurélie Bichsel setzt damit ihren Start-up-Traum um. Velofahren, reisen und gut essen. Das ist es, was Aurélie Bichsel in ihrem Job als Architektin vermisst hat. Die junge Freiburgerin, die heute in Bern lebt, hat vor einem Jahr nur eine Lösung gesehen: die feste Arbeitsstelle künden und ihre grosse Idee wahr machen. Ihr Geschäftspartner ist Willy, ihr gelbes Velo, mit dem sie fünf Monate lang ganz Europa erkundet hat. «Auf einer so langen Reise braucht man einen Freund», so die 29-jährige Unternehmerin – und lachend fährt sie fort: «Ich hatte eben nur mein Velo, und ich habe es Willy getauft.»

Neu können auch ihre Kunden einen Blick auf Willy erhaschen. Immer dann, wenn Aurélie Bichsel morgens mit reiner Muskelkraft ihre Produkte ausliefert: frische und hausgemachte Birchermüesli. Zutaten und Früchte bezieht sie vom Markt oder von Bauern aus der Region, die Müesli stellt sie selber her. «Etwas Gesundes nachhaltig produzieren und ausliefern; das ist es, was mir am Herzen liegt.» Das junge Geschäft sei trotz fehlender Werbung gut angelaufen, die Bestellungen ab zehn Müeslis liefert sie vorrangig in Büros und an Geschäftskunden. Den Velo-Genuss-Service bietet Aurélie Bichsel einzig in der Stadt Bern an – für Willy absolut in Ordnung. Er hat ja schon die halbe Welt gesehen.

 

Text: Marc Perler
Bilder: Christine Blaser, Rolf Siegenthaler, Nicole Ferrari

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